Psychodynamische Psychotherapie

Handwerk der Psychotherapie, Band 4

2015, 170 Seiten, hrsg. von Steffen Fliegel

ISBN 978-3-86333-004-0
Preis: 19.80 (enth. MwSt.: 1.30 €)


Der Band bietet eine durch viele praktische Beispiele anschauliche und verständliche Einführung in die Konzepte der psychodynamischen Psychotherapie und deren Arbeitsweisen. Diese beschränkt sich nicht darauf, manifeste Symptome und Phänomene nur festzustellen und deren Erscheinungen beseitigen zu wollen, sondern richtet ihren Blick auf das Zusammenspiel der zugrunde liegenden psychischen und psychosozialen Kräfte, der Gefühle, Gedanken, Impulse, Wünsche, Triebe, inneren Verbote, verinnerlichten normativen Erwartungen etc., die zu den seelischen und interpersonellen Störungen geführt oder beigetragen haben und das gegenwärtige psychische und psychopathologische Geschehen aufrechterhalten. 

Das Buch richtet sich an alle psychotherapeutisch Tätigen – Berufsanfänger ebenso wie erfahrene Therapeuten –, deren fachlicher Schwerpunkt nicht auf der psychodynamischen Psychotherapie liegt und die deshalb einen Einblick in die praktischen und theoretischen Aspekte der psychodynamischen Psychotherapie in übersichtlicher Form suchen.

Ulrich Streeck

Prof. Dr. med. habil., M.A., Studium der Medizin, Soziologie und Sozialpsychologie. Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin, Psychoanalyse. Ehem. ärztl. Direktor der Klinik Tiefenbrunn. Apl. Professor für Psychotherapie und psychosomatische Medizin an der Universität Göttingen.

Jessica Arnswald

Dipl.-Psych., Jahrgang 1973, Studium der Psychologie, Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin 2004, seitdem Tätigkeit im Asklepios Fachklinikum Tiefenbrunn. Beteiligung an Aus- und Fortbildung sowie Supervision in psychoanalytisch-interaktioneller Gruppentherapie im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft für die Anwendung der Psychoanalyse in Gruppen e.V.

1. Was ist psychodynamische Psychotherapie?


Psychischem Geschehen liegt ein Wechselspiel innerseelischer Kräfte zu Grunde, von Affekten und Trieben, Motiven und Charakterhaltungen, Wünschen und Widerständen; das drückt der Begriff ‚Psychodynamik’ oder ‚psychodynamisch’ aus (Benedetti, 1979). ‚Psychodynamische Psychotherapie’ ist keine bestimmte psychotherapeutische Methode, sondern ein Oberbegriff für ein Bündel von psychotherapeutischen Behandlungsmethoden. Ihnen ist gemeinsam, dass sie diesem Wechselspiel von Kräften im psychischen Binnenraum und im Verhältnis zur äußeren Realität Rechnung tragen.

Die Bezeichnung ‚psychodynamische Psychotherapie’ war international bereits verbreitet, ehe sie auch in den deutschen Sprachraum Eingang gefunden hat. Vor dem Hintergrund der Psychotherapie-Regelungen war hier die enger gefasste Bezeichnung ‚psychoanalytisch begründete Therapieverfahren’ gebräuchlich für „ (...) Formen einer ätiologisch orientierten Psychotherapie (...), welche die unbewusste Psychodynamik neurotischer Störungen mit psychischer oder somatischer Symptomatik zum Gegenstand der Behandlung machen“ (Richtlinien des Bundesausschusses, 2009, S. 7).
Zu diesen ‚psychoanalytisch begründeten Therapieverfahren’ gehören die analytische Psychotherapie sowie die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit verschiedenen methodischen Ausrichtungen einschließlich der Kurz- und Fokaltherapie, der dynamischen Psychotherapie, der niederfrequenten Therapie in einer längerfristigen haltgewährenden therapeutischen Beziehung und das katathyme Bilderleben. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf die Behandlungsdauer und die Behandlungsziele und decken entsprechend unterschiedliche Indikationsbereiche ab, die „von Verhinderung einer Hospitalisierung ohne Anspruch auf Heilung bis zur vollständigen Auflösung konfliktspezifischer fokaler Konflikte“ (Krause, 2009, S. 4) reichen.
Demgegenüber ist die Bezeichnung ‚psychodynamische Psychotherapie’ weiter und weniger spezifisch gefasst. Im Rahmen psychoanalytisch begründeter Verfahren wurden psychische Phänomene in erster Linie auf der Grundlage psychischer Konflikthaftigkeit erklärt. Heute gehen die Modelle psychischer Störungen darüber hinaus. Neben dem Konfliktmodell zur Erklärung psychischer Störungen stehen zum einen das sogenannte Defizitmodell, das dem Umstand Rechnung trägt, dass sich Beeinträchtigungen im Zuge der psychischen und psychosozialen Entwicklung in der seelischen Struktur der Person niederschlagen, zum anderen das Modell der seelischen Störungen, die traumatisch bedingt sind (vgl. Mertens, 2009). Die Gruppe der psychodynamischen Psychotherapien ist insofern in ein biopsychosoziales Verständnis psychischer und psychosozialer Prozesse und Störungen eingebunden.
Die therapeutischen Methoden, die zur psychodynamischen Psychotherapie gehören, gründen zu einem großen Teil in der Psychoanalyse. Sie beziehen sich in unterschiedlichem Ausmaß auf psychoanalytische Konzepte oder haben behandlungspraktische Elemente aufgenommen, die ihren Ursprung in der Psychoanalyse haben. Dabei bedarf die Rede von  d e r  Psychoanalyse allerdings einer Einschränkung und Richtigstellung: Die moderne Psychoanalyse ist breit gefächert und umfasst eine Vielzahl unterschiedlicher Theorien und Konzepte und ein nicht minder breites Spektrum an Mitteln und Wegen, mit denen die praktische Arbeit im Behandlungszimmer gestaltet wird – von der klassischen Psychoanalyse am einen Ende bis hin zur psychoanalytisch orientierten Beratung am anderen. Wenn somit von  d e r  Psychoanalyse die Rede ist, in der die psychodynamischen Methoden theoretisch und konzeptuell verwurzelt sind, dann ist immer in Rechnung zu stellen, dass Konzepte und Teiltheorien der Psychoanalyse sich nicht allein auf die klassische, von Sigmund Freud entwickelte Psychoanalyse beziehen. Vielmehr haben sich die verschiedenen, psychodynamisch genannten Methoden vor dem Hintergrund von klinischen Anforderungen und Erfahrungen auch unabhängig von der Psychoanalyse weiterentwickelt.
Gleichwohl ist die Psychoanalyse für die psychodynamischen Behandlungsmethoden als Grundlagenfach von Bedeutung, nicht jedoch als Methode zur therapeutischen Versorgung psychisch und psychosomatisch Kranker. In ihrer therapeutischen Praxis unterscheiden sich die psychodynamischen Methoden von der Psychoanalyse mehr oder weniger weitgehend. Bei einigen Methoden findet man nur noch wenige Elemente, die erkennen lassen, dass ihnen psychoanalytische Konzepte zu Grunde liegen. Andere psychodynamische Methoden haben konzeptuelle und behandlungspraktische Elemente auch aus anderen therapeutischen Richtungen als der Psychoanalyse übernommen. Hinzu kommt, dass sich manche der psychodynamischen Psychotherapien – beispielsweise die psychoanalytisch-interaktionelle Methode, insbesondere die psychoanalytisch-interaktionelle Gruppentherapie – außer auf psychotherapeutische und psychologische auch auf Konzepte stützen, die in anderen Fachgebieten verankert sind, etwa in der Soziologie und der Sozialpsychologie. Deren therapeutische Praxis ist nicht nur auf individuelle psychische und psychopathologische Dispositionen des einzelnen Patienten ausgerichtet, sondern messen auch dem Blick auf die soziale Lebenswelt des Patienten Gewicht bei. Vor diesem Hintergrund sind die konzeptuellen ebenso wie die praktisch-therapeutischen Unterschiede psychodynamischer Psychotherapien gegenüber der klassischen Psychoanalyse teilweise beträchtlich.
Psychische, psychosomatische oder psychosoziale Symptome sind aus psychodynamischer Sicht gleichsam Oberflächenerscheinungen oder Momentaufnahmen, denen ein dynamisches psychisches Geschehen zu Grunde liegt. Sie lassen sich darum nicht hinreichend wie Sachverhalte beschreiben, die so oder so sind wie beispielsweise die Körpergröße oder die Haarfarbe. Vielmehr bedarf es aus psychodynamischer Sicht immer einer Abklärung, auf welchem psychischen oder psychopathologischen Hintergrund es zu den jeweiligen Beeinträchtigungen gekommen ist, ob sich die Symptome beispielsweise aufgrund einer traumatischen Erfahrung eingestellt haben, ob sie konfliktbedingt oder eine Folge struktureller Einschränkungen sind. Das gilt für normales ebenso wie für gestörtes seelisches Erleben, für die Prozesse stabiler psychosozialer Anpassung an innere und äußere Bedingungen ebenso wie für die Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen und psychosomatischen Symptomen und Erkrankungen, für das Geschehen, das sich in der seelischen Binnenwelt abspielt, ebenso wie für interpersonelles Geschehen einschließlich des Geschehens zwischen Patient und Therapeut während der psychotherapeutischen Behandlung. Immer sollte das Bestreben von Psychotherapeuten, die mit psychodynamischen Methoden arbeiten, dahin gehen, den jeweiligen psychischen Hintergrund der Störungen des Patienten ebenso wie seiner besonderen Kompetenzen vor jeder Therapie so weit wie irgend möglich abzuklären.
Die Mehrzahl der psychotherapeutischen Methoden, die zur Gruppe der psychodynamischen Psychotherapien gerechnet werden, beschränkt sich deshalb nicht darauf, manifeste Symptome und Phänomene festzustellen und verändern zu wollen. Im Hinblick auf die therapeutische Praxis bedeutet das, dass sich das psychotherapeutische Handeln bei psychodynamischen Methoden nicht oder allenfalls ausnahmsweise auf die Phänomene alleine richtet. Vielmehr gilt es in der Behandlung, nicht nur die manifeste Oberfläche von Symptomen und auffälligem Verhalten im Auge zu haben, sondern immer mit zu bedenken, was diesen Phänomenen, Symptomen oder Beeinträchtigungen zu Grunde liegen könnte. Seelische und psychosoziale, gesunde wie pathologische Phänomene und Verhaltensweisen aus psychodynamischer Sicht zu erfassen und zu verstehen heißt somit, die zu Grunde liegenden Gefühle, Gedanken, Impulse, Wünsche, Triebe, inneren Verbote, verinnerlichten normativen Erwartungen u. a. zu untersuchen und zu verstehen. Nach Möglichkeit ist eine Antwort auf die Frage zu finden, wie diese Kräfte in welcher Weise zu den seelischen und interpersonellen Störungen geführt oder beigetragen haben und das psychische und psychopathologische Geschehen aufrechterhalten. Diese seelischen Kräfte, die zu einem großen Teil dem Träger nicht bewusst zugänglich sind, können zusammenwirken, können einander ergänzen, sind häufig aber auch konflikthaft gegeneinander gerichtet. Derartige meist unbewusste pathogene Konflikte können neben traumatisch bedingten Beeinträchtigungen und entwicklungsbedingten Störungen zu einer wesentlichen Quelle psychischer und psychosomatischer Symptome werden.
Die konzeptuelle Nähe psychodynamischer Psychotherapien zur Psychoanalyse zeigt sich in erster Linie darin, wie die psychischen und psychopathologischen Phänomene erklärt und wie über sie gedacht wird, nicht darin, wie der therapeutische Umgang im Behandlungszimmer ausgerichtet ist und gestaltet wird. Manchmal werden die Begriffe ‚Psychodynamik‘ oder ‚psychodynamisch’ leichtfertig gebraucht, ohne dass erkennbar ist, worin die psychodynamische Konzeptualisierung oder die therapeutische Ausrichtung der jeweiligen Methode besteht. Wenn von der dynamischen Qualität seelischer Prozesse oder von Psychodynamik die Rede ist, dann kann sich das zum einen auf das Zusammenspiel von bewussten, vorbewussten und unbewussten seelischen Vorgängen beziehen. ‚Psychodynamisch’ kann zum anderen auch unabhängig von ihrer Bewusstseinsqualität das Zusammenspiel oder Gegeneinander seelischer Kräfte meinen, die in der Psyche als wirksam angenommen werden. Schließlich kann sich die psychodynamische Sichtweise auch auf die fortlaufende Abstimmung von innerseelischen – insbesondere konflikthaften – und äußeren Bedingungen sowie auf die Aufrechterhaltung eines relativen psychischen Gleichgewichts richten.
‚Vorbewusst’ werden seelische Prozesse genannt, die dem Träger gegenwärtig zwar nicht bewusst sind, die aber auch nicht dem Unbewussten angehören und ohne Weiteres bewusst werden können und somit nicht vom bewussten Erleben ferngehalten werden müssen. Bewusste und unbewusste seelische Vorgänge können in vielfältiger Weise aufeinander bezogen sein. So kann es sein, dass bewusste Einstellungen oder Überzeugungen dazu beitragen, dass andere Einstellungen für das Bewusstsein unzugänglich bleiben, etwa in der Weise, dass die bewusste Überzeugung die Funktion hat, eine dieser bewussten entgegen gerichtete Überzeugung vom bewussten Erleben fernzuhalten oder – in psychodynamischer Begrifflichkeit ausgedrückt – abzuwehren. Das kann man zum Beispiel dort finden, wo jemand eine Überzeugung sehr rigide und rigoros vertritt, dabei anders lautende Überzeugungen strikt abweisen muss, ohne deren Plausibilität prüfen und darüber ernsthaft nachdenken zu können. So muss der Eindruck entstehen, dass von dieser Überzeugung, die von der eigenen abweicht, eine Beunruhigung oder gar Bedrohung ausgeht. Der manifest vertretenen Einstellung scheint ein Konflikt zu Grunde zu liegen, der der Person selbst nicht bewusst ist.
‚Psychodynamik’ bezieht sich auch auf das Zusammenspiel bzw. auf das Gegeneinander seelischer Kräfte, die in der Psyche als wirksam angenommen werden, unabhängig von ihrer Bewusstseinsqualität, etwa auf das Nebeneinander von Wünschen oder Bedürfnissen auf der einen Seite, inneren Ge- oder Verboten auf der anderen Seite. Das kann zum Beispiel dort der Fall sein, wo ein Wunsch oder ein Impuls mit den bewussten Überzeugungen der Person, ihren Idealen oder ihren normativen Vorstellungen nicht vereinbar ist, mit anderen Worten: verschiedene Seiten der Person miteinander im Konflikt liegen. Derartige Konflikte sind ganz und gar üblich und haben keinerlei die Person beeinträchtigende seelische Folgen, soweit die Person in der Lage ist, zwischen den unterschiedlichen Kräften, die den Konflikt bedingen, abzuwägen und schließlich zu entscheiden. So mag die Entscheidung der betroffenen Person darauf hinauslaufen, auf die Befriedigung des Wunsches zu verzichten und ihren Gewissensanforderungen gerecht zu werden; die Person mag aber auch zu der Entscheidung gelangen, sich den Wunsch zu gestatten und das zu erwartende schlechte Gewissen und die damit verbundenen Schuldgefühle in Kauf zu nehmen. Weder die eine noch die andere Konstellation hat irgendwelche psychopathologischen Auswirkungen. Weiter kann sich die psychodynamische Perspektive auf die fortlaufende Abstimmung von inneren und äußeren Realitätsanforderungen richten und auf die Aufrechterhaltung eines relativen psychischen Gleichgewichts nach innen und die Anpassung an Anforderungen der äußeren Realität mit Hilfe psychischer Abwehr- bzw. Anpassungsmechanismen. Abwehr- oder Anpassungsmechanismen werden seelische Prozesse oder auch Verhaltensweisen genannt, die die Funktion haben, die seelische Stabilität, das relative psychische Gleichgewicht, vor inneren oder äußeren Einflüssen, die dieses Gleichgewicht stören und zu inneren Spannungszuständen und Angst führen könnten, zu bewahren. Das kann im Fall psychischer Konflikte beispielsweise dort der Fall sein, wo der Konflikt dadurch gelöst wird, dass die eine Seite des Konflikts, etwa ein Wunsch oder eine Gewissensforderung, mit Hilfe von Abwehrmechanismen vom bewussten Erleben ferngehalten und unbewusst gehalten wird. Der Konflikt ist dann in der Weise ‚gelöst’, dass das Geschehen für die betreffende Person in keiner Weise konflikthaft erscheint. Die Person weiß gleichsam nichts von ihrem Wunsch in dem einen Fall oder sie merkt nichts von ihren Gewissensansprüchen in dem anderen.

Eine Frau, Anfang 50, konnte Neidgefühle und aggressiv-missgünstige Regungen ihrer jüngeren und erfolgreichen Schwester gegenüber dadurch erfolgreich abwehren, dass sie sich besonders freundlich und hilfsbereit dieser gegenüber verhielt und sich aufopferungsvoll für deren Interessen einsetzte. Indem sie ein der abgewehrten und damit unbewussten Empfindung gerade entgegengesetztes Gefühl empfand, konnte sie den Konflikt lösen. Im Kontext psychodynamischer Psychotherapien spricht man in diesem Fall von dem Abwehrmechanismus der Reaktionsbildung bzw. der Verkehrung ins Gegenteil.

Anders verhält sich die Situation, wenn in einer gegenwärtigen konflikthaften Situation ein unbewusster, nicht gelöster Konflikt der Vergangenheit wieder angesprochen und damit aktuell wird. Wenn es unter derartigen Umständen nicht zu einer Lösung des Konfliktes kommt, können – neurotische – Symptome entstehen, die dann als – untauglicher und vergeblicher – Versuch zu verstehen sind, den Konflikt doch noch zu lösen.

Bei einem jungen Mann, der in einem prüden Elternhaus aufgewachsen ist – beide Eltern gehörten zu einer streng religiös gebundenen Randgruppe –, hatte sich im Zuge seiner späten Pubertät angesichts von sexuellen Wünschen das diffuse Empfinden eingestellt, schlecht und schmutzig zu sein. Das führte im Weiteren dazu, dass er derartige Wünsche und sexuelle Gefühle nicht mehr zu haben schien. Offenbar konnte er sie von seinem bewussten Erleben fernhalten. Er hatte die Wünsche abgewehrt, genauer gesagt: verdrängt; sexuelle Wünsche schien es bei ihm nicht mehr zu geben. Als eine junge Kollegin Interesse für ihn bekundete und sich ihm näherte, entwickelte er allmählich Symptome in Form eines Waschzwangs. Damit war der unbewusste Konflikt, der in dieser Situation aktuell geworden war – sexuelle Wünsche auf der einen Seite, moralische Ansprüche, denen zufolge solche Wünsche als schmutzig galten und verpönt waren, auf der anderen Seite –, für ihn subjektiv ‚gelöst’; er schien sie nicht zu haben, eine ‚Lösung’ allerdings, die nur um den Preis einer Symptombildung, eines Waschzwangs, möglich war. Offensichtlich reichte die Abwehr der sexuellen Wünsche mit psychischen Mitteln nicht aus, so dass es in der Folge zu einem Symptom kam, das man wie den symbolischen Ausdruck des Bemühens lesen könnte, sich von seiner schmutzigen Sexualität reinzuwaschen.

In der psychodynamischen Psychotherapie vermittelt der Therapeut seinem Patienten nicht bestimmte kognitive oder praktische Fertigkeiten. Vielmehr geht das Bemühen in der psychodynamischen Psychotherapie dahin, die Beeinträchtigungen des Patienten und deren Hintergründe gemeinsam mit dem Patienten zu verstehen und deren vielfältige Folgeerscheinungen zu erkennen. Das Ziel der Therapie besteht somit darin, dass der Patient verlorengegangene oder eingeschränkte Freiheitsgrade des Handelns gewinnt und wiedergewinnt, nicht jedoch darin, dem Patienten zu vermitteln, wie er sich vermeintlich besser oder adäquater verhalten kann oder sollte.