Vorwort
Die Thematik „Sexualität und Kindheit“ war stets ambivalent und ist noch heute widersprüchlich. Sie schwankt zwischen Verharmlosung und Katastrophisierung kindlicher Sexualität, verbunden mit der Frage, ob Kinder überhaupt eine Sexualität haben.
Die Diskrepanz, ob man Kinder als sexuell empfindende oder asexuelle Wesen ansehen darf oder soll, zeigt sich auch in der historischen Entwicklung: Folgt man den Schilderungen von Philippe Ariès (1988), war zunächst das Spiel mit dem Geschlechtsteil des Kindes noch im 16. Jahrhundert eine weitverbreitete Tradition, die es ebenfalls bei vielen Naturvölkern gab, um beispielsweise kleine Kinder zu beruhigen. Im 17. Jahrhundert änderte sich diese Praxis. Man sah das Kind als rein und unschuldig an. Gleichzeitig sind Schriften zur Schädlichkeit der Selbstbefriedigung veröffentlicht worden wie beispielsweise das Buch L’Onanisme von Samuel Auguste Tissot, einem Schweizer Arzt, der 1760 Onanie als gefährliche Krankheit beschreibt mit der Folge des Rückenmarksschwunds. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist diese Interpretation in einem Gesundheitsratgeber der Ärztin Anna Fischer-Dückelmann noch bekräftigt worden. Praktisch zur selben Zeit hat Sigmund Freud seine Konzeption des Sexualtriebes und der frühkindlichen Sexualität veröffentlicht.
Kinder in Zusammenhang mit Sexualität zu sehen, geschieht heute weitgehend unter dem Stichwort der Pädophilie, was Widerstand und sogar Abscheu hervorruft und an die Debatte zum sexuellen Missbrauch erinnert.
Passt das also zusammen? Kinder und Jugendliche und sexuelle Störungen? Jugendliche mit sexuellen Übergriffen oder gar Kinder mit einer Störung der Geschlechtsidentität?
Wir, das Leitungsgremium des IVS (Institut für Verhaltenstherapie, Verhaltensmedizin und Sexuologie, Nürnberg), meinten Ja und führten deshalb am 21.11.2015 eine Fachtagung durch mit dem Thema „Sexuelle Probleme bei Kindern und Jugendlichen – was lernen wir daraus für die Behandlung von Erwachsenen?“ Während die Pädagogik sich beispielsweise in Aufklärungsbüchern mit dem Thema immer wieder befasst hat, haben Psychotherapeuten wenig dazu veröffentlicht. Wahrscheinlich war trotz sexueller Revolution in den 70er-Jahren die Diagnose „Störung der Geschlechtsidentität in Kindes- und Jugendalter“ oder gar „Sexuelle Übergriffe männlicher Jugendlicher“ noch nicht in den Praxen angekommen.
Wie dieses Buch aber nun deutlich macht, ist die Prävalenz, die gesamte Anzahl an Fällen und die Krankheitshäufigkeit eine ganz andere geworden. Deshalb ist diese Veröffentlichung mehr als überfällig.
Informiert wird über Probleme aus dem Spektrum der Sexualität und Geschlechtsidentität im Rahmen einer Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen. Das Buch enthält zahlreiche Falldarstellungen und geht zusätzlich auch auf das Erwachsenenalter ein. Der Leser und die Leserin erhalten theoretisches Hintergrundwissen, ihnen wird aufgezeigt, wie eine Psychotherapie tatsächlich effektiv durchgeführt werden kann. Das „Lehrbuch“ hat einen hohen Praxisbezug, berücksichtigt unterschiedliche psychotherapeutische Richtlinien und Verfahren und vermittelt einen fundierten wissenschaftlichen Hintergrund. Abgerundet werden die Beiträge durch einen Supervisionsprotokollbogen. Mit Hilfe dieses Buches finden also Beratende oder Therapierende eine pragmatische Unterstützung und werden ermutigt, sich mit einer bislang unterversorgten Klientel sowohl theoretisch auseinanderzusetzen als auch sich eine Behandlung eher zuzutrauen.
Neben (Sozial-)Pädagogen, Psychologen und Psychologischen Psychotherapeuten haben ganz besonders an dem Buch approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mitgewirkt. Ohne dieses neue Berufsfeld wäre das Buch wahrscheinlich in dieser Form gar nicht entstanden. Deshalb geht der Dank zuerst an die Autoren. Ebenso an alle, die die Fachtagung und dieses Buchprojekt unterstützt haben. Ich danke dem Verlag und Herrn Otmar Koschar für die Ermutigung zu dieser Arbeit sowie der Lektorin Frau Sabine Oswalt für die kreativen und konstruktiven Ideen und Korrekturen. Herr Sebastian Ruck hat zusätzlich der Herausgeberschaft kompetent geholfen und eine fruchtbare lektorische Vorarbeit geleistet.
Auch bei einem so ernsten Thema darf der Humor nicht fehlen, gerade deshalb steht am Ende dieses Buches ein kabarettistischer und jugendfreier Nachruf zum Thema Scham.
Andreas Rose, Fürth
Literatur
Ariès, P. (1988). Geschichte der Kindheit. München: dtv.