Integrative Paartherapie

Handwerk der Psychotherapie, Band 3

2013, 160 Seiten, hrsg. von Steffen Fliegel

ISBN 978-3-86333-003-3
Preis: 19.80 (enth. MwSt.: 1.30 €)


Integrative Paartherapie fordert beide heraus: das Paar und ihre Therapeuten. Paarkrise und Partnerstreit sind nicht nur Ausdruck privater Konflikte zwischen Liebenden, sondern spiegeln brennpunktartig spannungsreiche Widersprüche in Kultur, Gesellschaft und Politik. Persönliche und intime Glücksgestaltung wird überlagert von digitalem Zeittakt, Mobilisierung, Beschleunigung und zunehmender narzisstischer Ausprägung bis zur Asozialisierung.

Moderne integrative Paartherapie muss deshalb mehrdimensional arbeiten. Sie verbindet klassische Psychotherapie, menschliche Reifungsarbeit und paardynamische Kompetenzvertiefung durch eine Synthese von Einzel-, Paar-, Familien- und Gruppentherapie. Vorgestellt werden Interventionen, Methoden und Übungen, die über die therapeutischen Sitzungen hinaus das Paar auch zu Hause begleiten.

Michael Cöllen

Dipl.-Psychologe, Psych. Psychotherapeut, geb. 1944 in Colmar/Elsass. Studium in Würzburg. Therapeutische Ausbildung in Gesprächs-, Verhaltens- und Gestaltpsychotherapie, Sexualtherapie, Fortbildungen in Aggressionstherapie, Familientherapie, Psychodrama und Traumatherapie.

Aufbau der Partnerschafts- und Familienberatungsstelle Altmann Hamburg, dann 15 Jahre Leitung der Katholischen Eheberatung Hamburg. Lehraufträge an der Fachhochschule für Sozialarbeit und an der Universität Hamburg. Mentor und Supervisor in der Ausbildung von Eheberatern bei der BAG Bonn.
Seit 1975 Entwicklung einer Dyadischen Anthropologie und Psychologie des Paares mit einem paartherapeutischen Verfahren unter dem Begriff PAARSYNTHESE, entstanden in Zusammenarbeit mit verschiedenen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG), dem Fritz-Perls-Institut Düsseldorf (FPI) und dem Diakonischen Werk Hamburg (DW). Mitautor der NDR-Fernsehreihe „Ich und Du“ für Partnerprobleme. Von 1980–1995 Lehrtherapeut für Gestalttherapie am Fritz-Perls-Institut Düsseldorf, Mitbegründer und Lehrtherapeut der Deutschen Gesellschaft für Integrative Paartherapie und Paarsynthese (GIPP e. V.).
Zahlreiche Publikationen zu Partnerschaft und Paartherapie.

Die therapeutische Herausforderung


Moderne Paartherapie erfordert vielfache und unterschiedlichste Behandlungsmethoden, die dem umfassenden Wesen von Liebe, ihrer komplexen Lebenswirklichkeit und ihrer oft widersprüchlichen Lebensvielfalt tatsächlich gerecht werden. Menschliche Sehnsüchte, individuelle Bedürfnisse, geschlechtertypische, existentielle, gesellschaftliche, moralische und politische Vorstellungen mischen sich im Paar, kollidieren oft und explodieren manchmal. Diese häufig widerstreitenden Kräfte im Paar zu einem stimmigen Ganzen zu integrieren, bedeutet extreme Herausforderung für die Partner – und ihre Therapeuten. Die Fähigkeit zur Integration – und Synthese – wird zum Prüfstein für beide.

Paartherapie stellt daher notwendig einen eigenen Anwendungsbereich im gesamten Spektrum von Psychotherapie dar. Sie nur als Setting – Variante von Einzeltherapie – zu sehen, führt für die Betroffenen zu einer gefährlichen Reduzierung der Komplexität von Paardynamik. Gefährlich deshalb, weil eine solche Vereinfachung gerade das Paarspezifikum, das dyadische Potential, außer Acht lässt. Nicht Mensch und menschliche Beziehung generell stehen im Fokus, sondern der dem Paar eigene Energiefluss zwischen weiblich und männlich. Die Partner erfüllen sich dabei gegenseitig zu einem Ganzen. Sie finden dadurch erst zur vollen eigenen Identität. Natürlich können sie sich auf diesem Weg gerade auch gegenseitig blockieren. In der Realität des Liebesalltages geschieht dieses ziemlich oft und wird zum Drama für die Betroffenen. Dann wird nämlich nicht nur die Paarentwicklung, sondern genauso auch die gesunde Entwicklung der Einzelpersönlichkeit und der Familie blockiert.Paartherapie arbeitet daher immer gleichzeitig in mindestens zwei oder drei Richtungen. Heinrichs, Bodenmann und Hahlweg sprechen daher von bidirektionalem Arbeiten (2008). Diese psychologische Interferenz von Paardynamik, Psychodynamik und Familiendynamik führt zu einer Erweiterung des psychotherapeutischen Grundgedankens bzw. zu einem Umkehrschluss: Verhält es sich so, dass  menschliche  Entwicklung  in  und  durch  Beziehung  und  besonders  in  der Verdichtung der Zweierbeziehung gedeiht – oder gestört wird –, dann ist Paartherapie die eigentliche, die stimmigere Variante von Psychotherapie. Deshalb hat z. B. das Klinikum Heiligenfeld/Bad Kissingen damit begonnen, systematisch den Partner in den Behandlungsplan mit einzubeziehen bzw. Paartherapie in der Klinik anzubieten.

Drei typische Merkmale der Paartherapie seien vorangestellt:


  1. Verdichtung: Mit der Paartherapie verlässt die Psychotherapie den Elfenbeinturm der klassischen Einzeltherapie. Aus dem Trockenkurs wird Ernst: Auf dem bisher leeren Stuhl sitzt im Hier und Jetzt lebensnah der Partner selbst. Menschen erfahren sich während der Paartherapie durch die Verdichtung mit dem eigenen Partner handfest und fühlbar. Der Selbstwahrnehmung steht die Partnerwahrnehmung unmittelbar gegenüber. Auch wenn diese wiederum subjektiv bedingt ist, liefert sie doch einen sehr intimen und entscheidenden Einblick in und für das eigene Selbst.
  2. Psychologische Entwicklungshilfe: Das Bewusstwerden und die mögliche Integration der eigenen Schattenseiten als Weg zur seelischen Gesundheit vollziehen sich in der direkten Aktion mit dem Partner. Sein Feedback liefert dafür den fortwährenden Anstoß und treibt den therapeutischen Prozess voran. Die Paarbeziehung selbst wird damit zum therapeutischen Agens. Die Partner werden Entwicklungshelfer füreinander. Nicht mehr die aus dem Umfeld herausgestanzte Beziehung zwischen Therapeut und Klient steht im Vordergrund. Vielmehr verbindet sich das Paar, die angestammte Dyade, mit dem Therapeuten zur Triade (v. Schlippe, 1984; Borst, 2013). Erneut vollzieht sich dadurch eine menschliche Verdichtung, die wiederum verstärkt als Heilfaktor der Therapie wirksam wird.
  3. Übereinstimmung zwischen Paardynamik und Therapiedynamik: Sie wurde bisher weder in Theorie noch in Forschung noch in Praxis von Psychotherapie erfasst. Dabei vermitteln diese Parallelen ein erweitertes Verstehen für die Paar- und Einzelarbeit generell. Die Arbeitsthese dazu lautet: Paarbeziehung und therapeutischer Prozess haben elementare Übereinstimmungen.
    Charakteristische  Prozesse  der  intimen  Liebesbeziehung  wirken ebenso in der Psychotherapie wie umgekehrt.
    Beide Prozesse haben gemeinsam:
    1. Fließende Übergänge von gesunden bis zu pathologischen Faktoren.
    2. Intensive Formen von Übertragung und Gegenübertragung.
    3. Intensive Formen von Abwehr und Widerstand.
    4. Menschliche Liebe der Therapeuten und intime Liebe der Partner wirken als Heilungsprozess. Liebe wird zum Heilmittel.
    5. Beide Prozesse bringen intensive Selbsterfahrung mit sich.
    6. Eigenschaften eines guten Partners sind auch die eines guten Therapeuten – und umgekehrt.
    7. Integration als Wirkprinzip in Paar- und Therapiedynamik wird zusammen mit Synthese zur Grundlage für Expansion – ein Zugewinn an energetischem Potential.
    8. Liebe und Psychotherapie basieren wesentlich auf seelischer Kompetenz.
    9. Paardynamik und Paartherapie bewirken psychologische Entwicklungshilfe.


So sind die Vorteile der Paartherapie vielfältig. Sie verbindet die Einzelarbeit mit der Beziehungsarbeit zu einem Ganzen. Sie arbeitet mit den Sehnsüchten, Zielen und Wünschen der Einzelnen und des Paares. Sie arbeitet weiterhin mit den Mitteln der Liebe, derentwegen die Ratsuchenden kommen. Liebe ist obendrein das Ziel der Arbeit. Diese Übereinstimmung von Sehnsucht, Mitteln und Zielen macht die Arbeit einsichtig und augenscheinlich gültig. Gleichzeitig wird sie zu einer Herausforderung für die Partner und ihre Paartherapeuten, weil das Paar in seiner Dynamik das Menschsein bis an die fernsten Horizonte ausdehnt.