Vorwort
Was ist Selbsterfahrung? Bedeutet das, sich selbst kennenzulernen, indem man seine Erfahrungen reflektiert und sich so seiner Schwächen und Stärken bewusst wird? Oder heißt es möglicherweise auch, sich selbst zu verändern? Selbsterfahrung im weiteren Sinne wurde von humanistischen Therapieformen wie Gestalttherapie, Transaktionsanalyse, Psychodrama seit den siebziger Jahren für Interessierte angeboten – meist in Form von Selbsterfahrungsgruppen – als Weg, sich psychisch weiterzuentwickeln. Mit der Achtsamkeitsbewegung sind verschiedene Meditationsformen hinzugekommen, die speziell auch einen spirituellen Aspekt der Selbstentwicklung hervorheben. Und was bedeutet Selbsterfahrung für Therapeut*innen oder andere helfende Berufe? Hier kann es darum gehen, aus einem Berater einen reflektierten Gesprächspartner zu machen, der die blinden Flecken seiner Wahrnehmung und seine Reaktionsmuster kennt. So ist ihm leichter möglich, zum Klienten/Patienten eine hilfreiche Beziehung herzustellen, ohne in der Beratungssituation seine eigene Neurose zu inszenieren. Dazu gehört, sich mit der eigenen Abwehrstruktur, den eigenen Übertragungsmechanismen und der eigenen konzeptuellen Voreinstellung zu befassen. Und es gehört dazu, auch in der helfenden Rolle für sich selbst zu sorgen. Ganz nebenbei lernen Therapeut*innen durch die Selbsterfahrung, die Therapiesituation in der Rolle des Patienten am eigenen Leib zu erfahren.
Wenn man seine Eigen-Übertragungsmuster und Gegen-Übertragungsmuster kennt, kann man seine Reaktion relativieren. Man kann sein Helfersyndrom, seine Ungeduld, seine Belehrungen noch einmal kritisch hinterfragen, bevor man sie dem Patienten angedeihen lässt. Wenn ich mir meiner Verletzungen und Verletzbarkeit bewusst bin, sehe ich klarer, was mich am Mitgefühl hindert. Meine Abwehrmechanismen zu kennen, hilft mir, Schwächen der Therapiebeziehung vorauszusehen und entsprechend gegenzusteuern. Tritt meine schizoide Seite hervor, rechne ich mit meinem Rückzug, der den Patienten alleine lässt. Wird mir meine bedürftige Seite bewusst, so kann ich überprüfen, ob ich den Patienten für mich gewinnen will, statt ihm zu helfen.
Wenn man das Ausmaß und die Qualität seines Narzissmus erfasst, kann verhindert werden, die Therapiesituationen zu missbrauchen, um den Selbstwert aufzubessern. Bin ich ein dünnhäutiger Narzisst, muss ich auf meine Kränkbarkeit aufpassen, bin ich ein dickhäutiger Narzisst, muss ich auf meine Selbstherrlichkeit aufpassen. Spüre ich meine rigide Seite und wie meine Leistungs- und Lösungsorientierung mit mir durchgeht, kann ich meinen Eifer besser zügeln, der etwas für den Patienten erreichen will, statt ihn zu begleiten usw.
In der Selbsterfahrung bietet sich auch die Gelegenheit, eigene Behandlungskonzepte zu klären und so herauszufinden, ob man dogmatisch auf eine bestimmte Ebene der Therapie beharrt, obwohl andere Zugänge im Moment hilfreicher wären. Etwa wenn ein Therapeut meint, es müssten die irrationalen Überzeugungen des Patienten geändert werden, statt ein bestimmtes Verhalten einzuüben, was schneller zum Ziel führen würde. Oder wenn ihm die emotionale Erfahrung wichtig erscheint, obwohl er genauso gut dem Patienten damit helfen könnte, dessen automatischen Gedanken zu stoppen. Oder ob er bereit ist, Pharmaka oder Biofeedback einzusetzen, um den Therapieprozess zu beschleunigen, oder Hypnose, um unbewusste Schichten zu erreichen, oder ob er diese Methoden aus ideologischen Gründen ausschließt.
Therapeut*innen können in der Selbsterfahrung dahin kommen, eine angemaßte Deutungshoheit über das Verhalten, die Gedanken, Emotionen und Träume von Patient*innen zu hinterfragen. Indem sie nämlich ihre Rolle als Therapeut*in definieren und kritisch beleuchten: Will ich Lehrer, Begleiter, Guru, Elternfigur, gekaufter Freund oder Idealpartner sein? Es gibt so vieles, was an der Rolle der Therapeutin, des Therapeuten reflektiert werden muss – einschließlich der Tatsache, als Frau oder Mann dem Patienten, der Patientin gegenüberzutreten und sich die erotischen Unterschwingungen bewusst zu machen. Man kann eigentlich nicht umhin, eine fortdauernde Selbsterfahrung anzustreben, die in gewissem Umfang in Supervision am einen Ende des Kontinuums und in Eigentherapie am anderen Ende des Kontinuums übergehen kann.
Es gilt aber auch den Aspekt der Selbstfürsorge des Therapeuten hervorzuheben, die säkulare oder spirituelle Form annehmen kann. Da Therapie in einer asymmetrischen Beziehung stattfindet, die von Therapeut*innen nicht zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse ausgenutzt werden soll, geben sie automatisch mehr, als sie zurückbekommen. Weit mehr noch, sie müssen sogar mit wiederkehrenden Frustrationen wie lange sich hinziehenden Verläufen, Widerstand, Misserfolgen, mangelnder Motivation der Patient*innen und einer mäßigen Bezahlung fertigwerden. Therapeut*innen sollte es aber gut gehen, denn welcher Patient möchte einen Therapeuten, der sich durch die Sitzungen schleppt? Schon Sokrates soll gesagt haben, man könne einem Menschen nur helfen, wenn man sich selber helfen kann.
Selbstfürsorge ist daher nicht egoistisch, sondern verantwortungsvoll. Es sind neben einer gesunden Work-Life Balance mehrere Dinge vorgeschlagen worden, die zum seelischen Gleichgewicht und zur guten Stimmung des Therapeuten beitragen. Vorrangig werden Merkmale wie Achtsamkeit, Verbundenheit mit Anderen, Authentizität, Empathie, aber auch Dankbarkeit und die Fähigkeit zu verzeihen genannt. Dies alles – meine Rollendefinition als Therapeut, meine Therapiekonzepte, meine Abwehr und Übertragungstendenzen wie auch meine Selbstfürsorge – sind Themen und Inhalte der therapeutischen Selbsterfahrung.
In diesem Buch finden sich Beiträge zur Selbsterfahrung als Qualitätskontrolle wie auch zum Widerstand gegen Selbsterfahrung. Es liegen empirische Ergebnisse zur Selbsterfahrung im Rahmen der verhaltenstherapeutischen Ausbildung vor und Erörterungen darüber, was Methoden wie Schematherapie und Achtsamkeit für die Selbsterfahrung leisten. Ich kenne niemanden, der besser geeignet und durch seine eigene Erfahrung sowie sein umfassendes Wissen besser gerüstet wäre als meinen Freund Thommy Mösler, um dieses Buch zu diesem Thema herauszugeben. Er hat mehr als 700 Tage in 150 Retreats verbracht – davon 100 Tage Dunkelretreats in völliger Reizdeprivation – und Selbsterfahrung mit den unterschiedlichsten Kontemplations- und Meditationsmethoden in einem Umfang gesammelt, der unter Wissenschaftler*innen einzigartig ist. Er ist ein ausgezeichneter Kenner der östlichen und durch das Studium der Philosophie auch der westlichen Schulen, von den 18.000 Jahre alten Dzogchen-Lehren der Bön-Tradition über Platons Höhlengleichnis bis hin zur Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). Auf einem der Retreats mit Jon Kabat Zinn haben wir uns kennengelernt und es verbindet uns seither eine inspirierende Freundschaft.
Thommy Mösler ist mit ganzem Herzen klinischer Thanatologe und hat über tausend Sterbefälle selbst oder supervisorisch begleitet. Seine diesbezüglichen Erfahrungen hat er in die achtsamkeitsbasierte Selbsterfahrung für die Ausbildung von Verhaltenstherapeut*innen einfließen lassen, die in allen Lebensprozessen hilfreich sein können. Durch ihn bin ich auf das japanische Naikan-Verfahren aufmerksam geworden, einem besonders intensiven Meditationsprozess, den ich persönlich für die wirksamste Selbsterfahrungsmethode halte und die in veränderter Form Bestandteil seiner Kurse ist.
Es stellt einen Glücksfall dar, dass Thommy Mösler mit seinen Kollegen Wolfram Dorrmann, Johannes Kemper, Sandra Poppek und Andreas Rose die Initiative ergriffen hat, um nach jahrelanger Forschungsarbeit dieses erste umfassende Kompendium zum Thema Selbsterfahrung zusammenzustellen. Daraus ist ein wegweisendes Werk entstanden, in dem alle wichtigen Selbsterfahrungsströmungen sowie die derzeit namhaften Selbsterfahrungsforscher*innen zu Wort kommen, das Ende 2014 durch einen von ihm geleiteten Kongress wesentliche Impulse erhielt.
Dirk Revenstorf, Tübingen