Depressive Störungen bei Kindern und Jugendlichen

2018, 152 Seiten

ISBN 978-3-86333-103-0
Preis: 13.90 (enth. MwSt.: 0.91 €)


Wenn Kinder und Jugendliche eine depressive Störung haben, so kann sich dies in unterschiedlichsten Bereichen auswirken und ist oft nicht leicht erkennbar. In diesem Buch wird praxisnahes und theoriebasiertes Fachwissen vermittelt und ein Überblick zur Durchführung von Psychotherapien gegeben. In vielen Psychotherapieverläufen von Kindern und Jugendlichen spielt das Spektrum depressiver Störungsbilder eine wesentliche Rolle.

Die Vielfalt der Beiträge reicht von manualorientierten über kunsttherapeutisch ausgerichtete Therapien bis in den schulpädagogischen Kontext hinein und ermöglicht einen offenen Blick in den therapeutischen Alltag. Der angesprochene Altersbereich reicht dabei von früher Kindheit bis frühes Erwachsenenalter.

Das Buch ist für Psychotherapeuten, Ärzte, Pflege- und Fachkräfte, interessierte Betroffene und ihre Bezugspersonen gedacht.

Philipp Stang, M.A., arbeitet als Dozent, Supervisor und Co-Leiter für Selbsterfahrungsgruppen an staatlich anerkannten Ausbildungsinstituten nach dem Psychotherapeutengesetz sowie in Curricula der Facharztweiterbildung. Beteiligung an diversen Forschungsprojekten. Zusatzausbildungen: u.a. in Sexualtherapie, zertifizierter Präventionsmanager – Sexuelle Übergriffe gegen Kinder & Jugendliche, zertifiziert für das BMJS 12/21 (Behandlungsmanual für die Arbeit mit jugendlichen Sexualtätern, hier Therapie mit Sexualtätern) und Gruppenpsychotherapie. Als approbierter Psychotherapeut in eigener psychotherapeutischer und sexualtherapeutischer Praxis mit Kassenzulassung in Zirndorf tätig.

Depressive Störungen im Kindes- und Jugendalter


Philipp Stang & Karin Schleider


Einführung


Allgemein lässt sich sagen, dass es sich bei einer psychischen Störung um ein nicht normentsprechendes Erleben oder Verhalten handelt, aus dem ein subjektiver Leidensdruck für den Betroffenen und/oder dessen Umfeld hervorgeht. Spezifisch für die depressiven Störungen kann festgehalten werden, dass es sich bei dem Begriff depressive Störungen um einen Oberbegriff für eine Gruppe psychischer Störungen handelt. Die Gemeinsamkeit dieser Gruppe liegt im Störungsbild, welches durch ein depressives Syndrom und/oder depressive Kernsymptome imponiert.

In der einschlägigen psychiatrischen Fachliteratur finden sich unterschiedliche Definitionen zur Depression bzw. zu depressiven Störungen. Es scheint zunächst schwierig, einheitlich zu benennen, um welchen Sachverhalt es sich bei depressiven Störungen handelt.

Bei depressiven Störungen dreht es sich um eine heterogene Gruppe von psychischen Störungen, die symptomatische Gemeinsamkeiten aufweisen. Auch die Begriffe Depression, depressive Episode, depressive Störungen, affektive Störung, Anpassungsstörungen sowie Angst und depressive Störung, gemischt lassen ein nicht eindeutiges und heterogenes Verständnis von depressiven Störungen zu. Dies wird im vorliegenden Beitrag präzisiert.


1. Symptomatik und klinisches Bild


Preiß und Remschmidt (2007) befassten sich mit einer Literaturrecherche zu depressiven Störungen im Kindes- und Jugendalter in PubMed, PsyCONTENT und PSYNDEX. Sie verweisen ausdrücklich mit den daraus hervorgehenden Ergebnissen auf die geringe Anzahl der Artikel, die das Kinderalter fokussieren. Aufgrund der Entwicklung zeigen Kinder in der Regel ein atypisches depressives Erscheinungsbild mit Angstsymptomen, körperlichen Beschwerden und Verhaltensproblemen, während kognitive Symptome frühestens ab dem mittleren Kindesalter offenkundig werden. Jugendliche neigen eher zu einer Art Gequältsein, motorischer Unruhe, Stimmungslabilität, Grübelneigung, phobischen oder zwanghaften Symptomen, histrionischem Verhalten, Substanzmissbrauch, Gereiztheit und haben vermehrt Schlaf- und Appetitstörungen sowie Suizidgedanken (Stiensmeier-Pelster, Schürmann & Duda, 2000; Mehler-Wex, 2008; Schneider & Margraf, 2009). Durch diese „nicht klassische“ Symptomatik, also die untypische und altersspezifische Symptomatik, bleiben depressive Störungen im Kindes- und frühen Jugendalter immer wieder unentdeckt (Lempp, 2011, S. 71). „Altersunabhängig sind die bedrückt-traurige Grundstimmung, die Hemmung der geistigen Vorgänge und die Beeinträchtigung von Handlungsfähigkeit“ (Harrington, 2013, S. 11). Da es den Patienten je nach Lebens- und Entwicklungsalter nicht möglich ist, ihre Stimmung und Befindlichkeit zu verbalisieren, kann eine kindliche Depression je nach Entwicklungsstand (auch) andere Symptome zeigen. Die differenzialdiagnostische Abklärung depressiver Störungsbilder stellt daher eine Herausforderung für den Diagnostiker dar, da „hinzukommt, dass depressive Symptome Teil anderer psychischer Erkrankungen sein können. Dies gilt z. B. für Essstörungen, das hyperkinetische Syndrom, Lernstörungen, Angststörungen, Zwangsstörungen, psychotische Erkrankungen, Suchterkrankungen oder Störungen des Sozialverhaltens“ (ebd.).

Diesbezüglich fordern Steinhausen (2002) und Klitzing (2006) eine genaue und sorgfältige Diagnostik, um eine depressive Störung zu identifizieren. Die klinische Forschung im Bereich der affektiven Störungen des Kindes- und Jugendalters sei noch ungenügend (Klitzing, 2006).

Mehler-Wex (2008) proklamiert, dass es für Kinder und Jugendliche keine einheitlichen ICD-10-Kriterien (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) depressiver Störungsbilder gibt. Depressive Symptome können für Mehler-Wex bei folgenden Störungen vorhanden sein: depressive Episode (F32), rezidivierende depressive Störung (F33), bipolare Störung (F31), Zyklothymie (F34.0), Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0), Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2), schizoaffektive Störung (F25), postschizophrene Depression (F20.4), Anpassungsstörung (F43.2) und organische affektive Störungen (F06.3) (ebd.).

Hingegen bezieht sich Essau (2002) mit dem Begriff depressive Störungen auf eine Auswahl der affektiven Störungen. Schneider und Margraf (2009) ordnen die depressiven Störungen nach ICD-10 für das Kindes- und Jugendalter nosologisch wie folgt ein: depressive Episode (F32), rezidivierende depressive Störung (F33), anhaltende affektive Störungen (F34), sonstige affektive Störungen (F38), nicht näher bezeichnete affektive Störung (F39), Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43.2), Angst und depressive Störung, gemischt (F41.2) sowie Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0) (ebd.; Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2012).

Die depressive Symptomatik ist wie bereits oben erwähnt alters- und entwicklungsabhängig. Zu den alters- und entwicklungsabhängigen Symptomen gehören auch folgende (siehe Tabelle 1 auf nächster Seite).

Durch Begriffsbestimmungen und Erläuterungen der Phänomenologie verschiedener depressiver Störungsbilder wird das Konstrukt depressiver Störungen erschlossen. Da sich die depressiven Störungsbilder auf die affektiven Störungen mit der depressiven Episode symptomatisch beziehen, wird im Folgenden die Depression im Sinne der depressiven Episode am ausführlichsten erörtert. Die im Anschluss aufgeführten Störungsbilder werden daher nur im Hinblick auf Abgrenzungen von depressiven Episoden erläutert.

Der Begriff Depression leitet sich von dem lateinischen Verb deprimere (depressus, Partizip) ab, welches niederdrücken, herunterdrücken und herabziehen bedeutet (Pschyrembel, 1997). Bei Barocka (2013) findet sich eine Einführung in die historische Entwicklung der Konzepte zum Störungsbild Depression. Er verweist auf Kraepelins Begriff des „manisch-depressiven Irreseins“ und auf die Dichotomien bipolare versus unipolare affektive Störungen, neurotisch versus psychotisch sowie endogen versus reaktiv (ebd., S. 13).

Nickel (2009) fasst unter diese heterogene Krankheitsgruppe die depressive Episode, die rezidivierende depressive Störung, die Depression im Verlauf von Erkrankungen des bipolaren Spektrums, die Dysthymia, die chronische Depression, die Anpassungsstörung und die substanzinduzierte affektive Störung.

Die Symptomatik bezieht sich grundsätzlich auf die Emotionen, die Motivation, den Antrieb, die Kognitionen, die Motorik und das vegetative Nervensystem (Wirtz, 2014). Die gedrückte, traurige Verstimmung bestimmt das AMDP-System näher mit „negativ getönte Befindlichkeit (niedergedrückt, niedergeschlagen)“ (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie [AMDP], 2007, S. 92). Es kann zu direkten Formulierungen kommen wie „ich bin traurig“ (ebd.). Der Ausdruck der deprimierten Stimmung – von Schüßler auch depressive Verstimmung genannt (Schüßler, 2001, S. 67) – kann jedoch auch „von sichtbarer Niedergeschlagenheit mit Weinen und heftiger Bewegtheit bis zur völligen Erstarrung im Schmerz gehen“ (AMDP, 2007, S. 92). Hell (2009) erläutert die Phänomenologie der Depressivität mit einem historischen Verweis näher:

Depressive Menschen empfinden sich nun nicht nur stimmungsmässig niedergedrückt und herabgestimmt, sondern sie zeigen auch oft eine gedrückte Körperhaltung, indem sie den Kopf eher gesenkt halten, wenig Augenkontakt aufnehmen und Schultern und Arme fallen lassen. Diese leicht gebückte Haltung, die an Menschen erinnert, die von einer schweren Last niedergedrückt oder durch Demütigungen, destruktive Kritik und Aggressionen niedergeschlagen wurden, hat Emil Kraepelin als Kernsymptom der von ihm depressiv genannten Menschen bezeichnet. (ebd., S. 1f.)


Grundsätzlich sind verbale und vokale Äußerungen zum Ausdruck dieser herabgestimmten Affektivität möglich, jedoch nicht immer auffindbar.

Hell (2002) unterscheidet ein „schwermütiges“ von einem „schwernehmerischen“ Erleben bei Patienten mit depressiver Störung. Anstelle des ersten Begriffs, welcher so viel bedeutet wie „eine innere Gemütsleere, die (scheinbar) grundlos auftritt“, wurden in der Vergangenheit die Ausdrücke „endogen depressiv“, „melancholisch“ oder „affektpsychotisch“ verwendet (ebd., S. 38). Ein „schwernehmerisches“ Erleben wurde als „reaktive“ Störung bezeichnet. Dabei fällt laut Hell (2002) auf, dass ein „schwernehmerisches“ Erleben in Verbindung mit einem Umstand, einer Situation oder einem Konflikt steht. Die Betroffenen erleben sich weiterhin in einem Zusammenhang mit der Umwelt, während sich ein Mensch mit einem „schwermütigen“ Erleben hingegen aus der Gemeinschaft exkludiert fühlt (ebd., S. 39).

Dass bisher keine einheitliche Definition im psychologisch-psychotherapeutischen und psychiatrischen Fachdiskurs zu Depression und depressiven Störungen Verwendung findet, liegt nicht zuletzt daran, dass mit dem Sammelbegriff Depression, wie oben skizziert, neben einem Symptom und einem Syndrom eine ganze Störungsgruppe oder die Folge einer anderen psychiatrischen Störung bezeichnet wird (Möller, Laux & Deister, 2005; Mehler-Wex, 2008).

Die Symptome eines depressiven Syndroms können sich „kulturspezifisch als Störungen des Affekts, des Verhaltens oder auch als somatische Beschwerden äußern …“ (Schouler-Ocak, Aichberger, Heredia Montesinos, Bromand, Rapp & Heinz, 2010, S. 873). Vor allem im Kindes- und Jugendalter ist es herausfordernd, dem Begriff der Depression eine einheitliche Definition zugrunde zu legen (Groen & Petermann, 2005b).

Nach Schüßler (2001, S. 71f.) haben fast alle Klassifikationsversuche depressiver Syndrome folgende Unterscheidungen („traditionelle Einteilung“) gemeinsam: somatogene Depression, endogene (psychische) Depression, psychogene Depression, depressive Persönlichkeit sowie als „Kriterien zur Beschreibung und Abgrenzung depressiver Zustände“ neben dem Schweregrad den Verlauf, die Umweltabhängigkeit und die Symptomatik. Zur Erläuterung der einzelnen Unterscheidungen sei auf Schüßler (2001) verwiesen.
Die Kernsymptome einer Depression im Sinne eines depressiven Syndroms sind für Groen und Petermann (2005b, S. 633f.):

  1. eine deutlich emotionale Niedergeschlagenheit (Traurigkeit oder depressive Verstimmung),
  2. eine eingeschränkte Möglichkeit, Freude, Lust und Interesse zu empfinden (Anhedonie) und
  3. ein verminderter Antrieb, weniger Aktivität oder eine leichtere Erschöpfung und Ermüdbarkeit.


Revenstorf (1992) versteht unter Verweis auf die psychiatrische Nosologie unter Depression eine chronifizierte Traurigkeit im Sinne einer Störung des Affekterlebens. In Abgrenzung sei mit Verweis auf Hell (2012) darauf aufmerksam gemacht, dass eine „bloße“ Traurigkeit keine Depression sein muss.

Dass es sich bei den depressiven Störungen um eine der bedeutendsten psychischen Störungen handelt, zeigt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf. Laut der WHO ist die Depression für die Industrienationen „first-line public health issue“ (Fegert & Kölch, 2011, S. 141). „The World Health Organization predicts [in 2009] that within 20 years more people will be affected by depression than any other health problem“ (BBC News, 2009). Dabei fällt besonders ins Gewicht, dass 50% aller Depressionen in der primären Gesundheitsversorgung unerkannt bleiben (WHO, Regionalkomitee für Europa, 2003).

In den nächsten zwei Jahrzenten wird die Depression zu den Krankheiten gehören, „die neben den Herz-Kreislauf-Krankheiten das meiste Leiden und die höchsten Kosten verursachen werden“ (Hautzinger, 2005, S. 449). Auch Fegert und Kölch (2011) verweisen auf die enormen Auswirkungen der Depression auf die Lebensqualität der Betroffenen sowie die immensen Folgekosten sowohl für das Gesundheitssystem wie auch die Volkswirtschaft insgesamt.