Psychotherapeutische Krisenintervention

Handwerk der Psychotherapie, Band 6

2015, 160 Seiten, hrsg. von Ulrich Streeck

ISBN 978-3-86333-006-4
Preis: 19.80 (enth. MwSt.: 1.30 €)


Psychotherapeutinnen und -therapeuten werden in ihrer täglichen Arbeit oft mit akut schwer belasteten Menschen konfrontiert. Menschen, die z.B. Todesfälle, die Mitteilung einer schwerwiegenden Krankheitsdiagnose, Trennungen, Gewalthandlungen oder einen Arbeitsplatzverlust erlebt haben. Solche Situationen können sich rasch zuspitzen und erfordern daher eine schnelle und umsichtige Intervention. 

Dieses praxisorientierte Buch bietet allen, die im psychosozialen Feld tätig sind, eine Anleitung im Umgang mit Menschen in Krisen. 

Es werden zunächst die wichtigsten Krisentheorien erklärt. In weiteren Kapiteln wird auf die Gefahrenpotenziale von Krisen eingegangen und eine systematische Darstellung der Methodik von Krisenintervention vorgenommen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Beziehungsgestaltung und der Anwendbarkeit unterschiedlicher therapeutischer Ansätze. Im abschließenden Kapitel wird auf den Wandel und die neuen Herausforderungen in der Kriseninterventionsarbeit eingegangen. Die theoretischen Ausführungen werden durch zahlreiche Fallbeispiele aus dem Praxisalltag veranschaulicht. 

Dr. Claudius Stein

ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut (Katathym Imaginative Psychotherapie) in eigener Praxis. Er ist seit 15 Jahren der Ärztliche Leiter des Kriseninterventionszentrum Wien, stellv. Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention und Lehrtherapeut/Dozent für Katathym Imaginative Psychotherapie. 

Er ist tätig als einer der Leiter des Weiterbildungscurriculums Krisenintervention (Österreichischer Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik, ÖAGG,  und Österreichische Gesellschaft für angewandte Tiefenpsychologie und allgemeine Psychotherapie, ÖGATAP ) sowie als wissenschaftlicher Beirat der Lindauer Psychotherapiewochen. 

Grundlagen der Kriseninterventionsarbeit



Ich habe mit den beiden vorangehenden Fallbeispielen zu verdeutlichen versucht, dass die Kriseninterventionsarbeit eine sehr fokussierte, kurzfristige und hochwirksame Intervention darstellt, die vom Therapeuten oft einen hohen Einsatz und deutlich mehr Aktivität und Flexibilität als im üblichen therapeutischen Setting erfordert. Umso wichtiger ist es, eine exakte Indikation zu stellen.
In diesem Kapitel werde ich zunächst die historischen Wurzeln der Krisenintervention erläutern, danach wird eine Begriffsklärung vorgenommen und Faktoren benannt, die zum Krisenverlauf beitragen, um schließlich die gängigsten Krisenkonzepte darzustellen.


2.1 Wurzeln der Krisenintervention


In den 40er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts hat Erich Lindemann (1944) nach der Brandkatastrophe in dem Bostoner Nachtclub Coconut-Grove, bei der 492 Menschen ums Leben kamen, Hinterbliebene sowie Überlebende untersucht und betreut und ist in der Folge zur Überzeugung gelangt, dass Menschen, die von derartig schwerwiegenden Belastungen, Verlusten und Traumatisierungen betroffen sind, ein gezieltes professionelles Hilfsangebot benötigen. Gerald Caplan (1964) entwickelte diesen Ansatz im Sinne eines sozialpsychiatrisch-präventiven Konzepts weiter. Beide waren der Meinung, dass eine rechtzeitige Intervention der Prävention von Störungen diene, und initiierten folgerichtig das erste Community Crisis Center mit dem Ziel, Krisen möglichst frühzeitig zu bearbeiten.
Da Suizidalität neben Gewalthandlungen die dramatischste Zuspitzung von Krisen darstellt, waren Konzepte zur Suizidprävention von Beginn an eng mit solchen zur Krisenintervention verknüpft. Die ersten Einrichtungen zur Suizidprophylaxe wurden lange vor den ersten Kriseninterventionszentren gegründet. Diese wurden zunächst von nichtärztlichen, karitativen Einrichtungen betrieben. So entstand die erste Telefonseelsorge 1895 in London. 1948 gründete Erwin Ringel mit der Caritas der Erzdiözese Wien als Träger die Lebensmüdenfürsorge Wien, die es sich zur Aufgabe machte, Personen nach einem Suizidversuch und Hinterbliebene von Menschen, die sich suizidiert hatten, zu betreuen. Ähnliche Einrichtungen folgten in ganz Europa. Da Krisen häufig Situationen sind, in denen Menschen auf Grund der hohen emotionalen Belastung suizidal werden, wurde bald deutlich, dass es sinnvoll ist, Konzepte der Suizidprävention mit denen der Krisenintervention zu verbinden. Aus der Lebensmüdenfürsorge Wien ging 1977, als erste derartige Institution in Europa, das Kriseninterventionszentrum Wien hervor.
Schließlich hat auch die sozialpsychiatrische Reformbewegung der 70er-Jahre wesentlich zur Entstehung von Kriseninterventionszentren im deutschsprachigen Raum beigetragen. Das Verständnis, dass psychische Krisen eine zentrale Bedeutung für die Entstehung psychischer Störungen haben, bzw. deren Verlauf beeinflussen, erforderte therapeutische Konzepte abseits der gängigen psychiatrischen Versorgungeinrichtungen, um durch rechtzeitige Interventionen präventiv handeln zu können. Dies verstärkte die Tendenz, Institutionen zu gründen, die zwar eng mit ambulanten und stationären Einrichtungen der Psychiatrie vernetzt sind, aber auf Grund ihrer Unabhängigkeit ein niederschwelliges Angebot für jene Betroffenen anbieten, die nicht primär psychiatrische Hilfe benötigen.
Seit den 70er-Jahren haben sich im deutschsprachigen Raum erfreulicherweise in vielen Großstädten Kriseninterventionseinrichtungen als fixer Bestandteil psychosozialer Versorgungsnetze etabliert (vgl. auch Sonneck, Goll, Kapitany, Stein & Strunz, 2008).


2.2 Definition von Krisen


Psychosoziale Krisen stellen ein Phänomen an der Nahtstelle zwischen Normalität und Krankheit dar (vgl. Erikson, 1966). Krisen gehören selbstverständlich zum Leben, jeder Mensch kann in jedem Lebensalter und in jeder Lebensphase davon betroffen  sein.  Der  äußere  und  innere  Druck,  der  mit  ihnen  einhergeht,  stellt Menschen vor große Herausforderungen. Die Dringlichkeit und Zuspitzung, die einerseits besonders unangenehm und bedrohlich sind, bergen auf der anderen Seite die besondere Chance zur Veränderung. Verschiedene Ausgänge sind möglich, solche, die in Chaos und Katastrophe münden, aber auch solche, die erstaunliche Reifungsprozesse ermöglichen. Nicht von ungefähr setzt sich der Begriff Krise in der chinesischen Schrift aus zwei Zeichen zusammen: Wei und Ji. Wei steht dabei für Gefahr, Ji für Chance. Dieses Doppelzeichen symbolisiert somit das wichtigste Charakteristikum von Krisen, nämlich deren Doppelgesichtigkeit. Definitionsgemäß entstehen Krisen, wenn ein Mensch mit außergewöhnlich belastenden Ereignissen wie Todesfällen, Trennungen, Arbeitsplatzverlust oder lebensbedrohlichen körperlichen Erkrankungen, aber auch mit anderen neuen Lebensumständen konfrontiert ist, denen er sich momentan nicht gewachsen fühlt. Die innere Überzeugung, dass eigene Fähigkeiten und Ressourcen ausreichen, um mit dem Problem in adäquater Weise umgehen zu können, geht verloren. Das so entstehende Ungleichgewicht kann rasch als äußerst bedrohlich erlebt werden und Gefühle von Furcht, Überforderung, Spannung, Hilflosigkeit sowie Verzweiflung nach sich ziehen. Selbstwert und Identität sind in Frage gestellt, und es können sich verschiedenste, oft quälende Symptome wie Angst, depressive Verstimmungen und Schlaflosigkeit entwickeln. Dies ist äußerst belastend; daher unternehmen Betroffene größte Anstrengungen, um einen solchen Zustand zu beenden und wieder ihr Gleichgewicht zu finden. Oft sind sowohl vom Betroffenen wie auch von seiner Umgebung rasche Entscheidungen zu treffen, die Prozesse in Gang setzen, die die Krise entspannen oder auch verschärfen können. Schlagen Bewältigungsversuche fehl, kann dies Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Unerträglichkeit auslösen. In solchen Situationen fällt es schwer, rational zu denken. Massiver Stress blockiert das Denken. Die Gefahr affektiv-impulsiver Entscheidungen und Handlungen ist groß. Suizidale wie auch Gewalthandlungen, die sich gegen Andere richten, können dem Betroffenen unter Umständen als letzter Ausweg erscheinen. Gelingt es aber, die Krise zu meistern und neue Erfahrungen sowie Problemlösungsstrategien zu entwickeln, kann das Leben gereift und gestärkt weitergeführt werden.
Überwiegen inadäquate oder schädliche Bewältigungsversuche, die dazu dienen, sich vom massiven Druck zu entlasten, und werden wichtige Ziele aufgegeben, kann es zur Chronifizierung von Symptomen und zu psychischen oder psychosomatischen Störungen kommen, die dauerhaft erhebliche Einschränkungen der Lebensqualität nach sich ziehen (vgl. Kap. 3).

Sonneck, Kapusta und Tomandl (2012, S. 32) definieren unter Bezugnahme auf Caplan (1964) und Cullberg (1978) die Krise folgendermaßen: 

„Unter psychosozialen Krisen versteht man den Verlust des seelischen Gleichgewichtes, den ein Mensch verspürt, wenn er mit Ereignissen und Lebensumständen konfrontiert wird, die er im Augenblick nicht bewältigen kann, weil sie von der Art und dem Ausmaß her seine durch frühere Erfahrungen erworbenen Fähigkeiten und erprobten Hilfsmittel zur Erreichung wichtiger Lebensziele oder zur Bewältigung seiner Lebenssituation überfordern.“

Eine psychosoziale Krise ist zeitlich begrenzt. Alle relevanten Theorien und die daraus abgeleiteten Interventionsstrategien beziehen sich auf einen Zeitraum von einigen Wochen bis maximal zwei bis drei Monaten (vgl. Lindemann, 1944; Jacobson, 1974; Ulich, 1987; Sonneck et al., 2012).

Merke: Eine Krise entsteht immer dann, wenn ein Ungleichgewicht zwischen einer äußeren Belastung und den momentan zur Verfügung stehenden Bewältigungsstrategien aufkommt.

„Insgesamt ist das theoretisch fundierte und praxisnahe Fachbuch von Claudius Stein, dem Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien, allen am Thema Interessierten, Fachleuten im psychosozialen Feld und Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu empfehlen. Die Theorie ist verständlich und kompetent erklärt, die übersichtlichen Tabellen können als Leitfaden für die eigene Arbeit dienen und die vielen Fallbeispiele aus der Praxis veranschaulichen die Komplexität der Arbeit und machen diese gut nachvollziehbar.“

(Ingrid Reichman, Imagination 1/2016)